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Mitte März 1995 überrascht eine Meldung die Luftfahrtindustrie: SAS treten als Erstkunde für die Boeing 737-600 auf und bestellen 35 Flugzeuge fest und vereinbaren Optionen für eine identische Anzahl. Mit diesen 70 Boeing 737-600 sollte der Bedarf an neuen 100-Sitzern bei SAS gedeckt werden. Die Optionen ließen auch eine mögliche Umwandlung in Festbestellungen in größere Versionen der 737-NG-Familie zu.
Diese Entscheidung wurde als „heftiger Schlag gegen McDonnell Douglas“ gewertet. McDonnell Douglas (oder eher die zivile Sparte Douglas Aircraft) gaben auch eine öffentliche Stellungnahme ab und unterstrichen ihre große Enttäuschung darüber, dass SAS sich gegen die MD-95 entschieden hätte.
Es sei „...eine große Enttäuschung und noch enttäuschender ist es, wenn der Kunde (SAS) so lange ihre (Douglas-)Produkte fliegt und dann wechselt.“
Trotz dem Rückschlags würde „man an dem MD-95-Programm festhalten. Wir brauchen Kunden, aber der Erfolg oder Nichterfolg des Programms hängt nicht von einen Kunden ab." SAS äußerten sich mit den Worten, dass „die MD-95 ein Papierflieger ist. Wir hätten es berücksichtigt, wenn andere Kunden ebenfalls (dieses Modell) berücksichtigt hätten“. In diesem Zusammenhang wurde bekannt, dass Boeing den Auftrag gegen folgende Konkurrenzmodell an Land ziehen konnte: Airbus A319, BAe Avro RJ, Fokker 100, McDonnell Douglas MD-95.
Interessant ist, dass ein paar Jahre später die SAS bestätigte, dass die Boeing 737 am Anfang überhaupt nicht in die Evaluierung mit einbezogen wurde.
Die A319 wurde von SAS als „sehr gutes Flugzeug“ bezeichnet, gleichwohl sei es„kein richtiger 100-Sitzer“. Ab der zweiten Hälfte 1998 sollten die ersten Boeing 737-600 ausgeliefert werden und die DC-9 und Fokker F28 auf längeren Routen ersetzen. Nach damaligen Äußerungen von Boeing war von SAS geplant, die Boeing 737-600 mit konvertierbaren Sitzreihen auszustatten, die je nach Buchungslage eine Kapazität zwischen 95 und 128 Passagieren bieten sollte. Die Kapazitätsunterschiede sollten sich primär durch Umwandlung einer 6er-Sitzreihe in eine solche für fünf Gäste ergeben. McDonnell Douglas hofften nach diesem Rückschlag, dass andere Unternehmen sich für die MD-95 entscheiden würden. Schriftlich erwähnt wurden hier Alitalia, Austrian Airlines, Korean Air und ILFC.
Die Signalwirkung der SAS-Entscheidung hatte je nach Betrachtungsweise enorme Signalwirkung in der Luftfahrtindustrie. Zwar beschwichtigten SAS ihre Entscheidung mit der Aussage, dass man mit "92 DC-9 und MD-80 weiterhin ein wichtiger Kunde von McDonnell Douglas sein würde", aber es war klar, dass SAS ihre Flottenstruktur darikal ändern werden. Tatsächlich wurde nach der Entscheidung zugunsten der Boeing 737-600 die Bestellung von sechs MD-90 um zwei Flugzeuge erhöht. Diese Bestellung wurde von McDonnell Douglas in ganzseitigen Werbeanzeigen publiziert - bei nur zwei bestellten Flugzeugen! Es war möglicherweise der verzweifelte Versuch von McDonnell Douglas, den Anschein zu wahren, dass man weiterhin in der zivilen Sparte aktiv ist und die MD-90 weitere Erfolge an Land ziehen könne. Unterdessen konnte Boeing den Erstflug ihrer 737-600 am 22. Januar 1998 vermelden und die Flugerprobung wurde intensiv umgesetzt.
Mitte der 1990er übernahmen SAS dann recht überraschend und temporär zehn MD-81 aus Beständen der Swissair. In dieser Phase erholten sich die angeflogenen Märkte weitaus positiver als erwartet und SAS setzten wieder auf Expansion. Auch wurde die Kapazitätserhöhung durch Einführung der MD-90 erfreulich erwartet.
Wage Informationen existieren über die finanziellen Konditionen im Zusammenhang mit dem Deal für die Boeing 737-600. Glaubt man den wenigen zur Verfügung stehenden Informationen, dann wurden die 35 fest bestellten Boeing 737-600 zu einem Stückpreis von 19 Millionen US $ verkauft, während McDonnell Douglas ihre MD-95 zum Stückpreis von 20 Millionen US $ angeboten hatte. Ein internes SAS-Evaluierungskomitee sprach sich für den Kauf von "50 MD-95 zum Stückpreis von 20 Millionen US $" aus. Der Geschäftsführung war aber offensichtlich das Risiko zu groß, ein "brandneues Flugzeug (die MD-95) bei einem Hersteller zu bestellen, dessen Überleben immer mehr innerhalb der Branche angezweifelt wurde".
Hinter der Entscheidung gegen die MD-95 stand bei anderen interessierten Fluggesellschaften und Leasingunternehmen öffentlich die Frage, wie lange McDonnell Douglas noch im zivilen Flugzeugbau aktiv sein werden oder können.
Im Mai 1999 wurden Artikel in der Fachpresse über erste Einsatzerfahrungen mit der neuen 737-600 veröffentlicht. SAS bezeichneten die ersten Betriebsmonate in einigen Aspekten als "enttäuschend". Begründet wurde dies aber primär auf der Tatsache, dass man (als SAS) zuvor „keine Erfahrungen mit der Boeing 737“ hatte. Dies diente auch als Erklärung dafür, dass die 737-600 bei SAS die schlechteste Zuverlässigkeitsrate aller 737NG-Betreiber aufwies. Die fehlende Erfahrung mag so nicht ganz stimmen, da SAS zwischen 1993 und 1995 insgesamt zehn Boeing 737-500 einsetzte und diese Flugzeuge sich überaus gut bewährten und SAS von diesem Flugzeugtyp begeistert war. Diese Flugzeuge wurden im Zuge einer Umstrukturierung an British Midland vermittelt, da dieser Flugzeugtyp insgesamt am besten vermarktet werden konnte. Andererseits zeigten erste Ergebnisse, dass der Kerosinverbrauch der bei der Schubleistung bewusst gedrosselten CFM-Triebwerke minimal unter den Angaben des Herstellers lag und die 737-600 das mit Abstand technologisch fortschrittlichste Flugzeug in der Flotte von SAS wäre. Die hohe Anzahl an Service Bulletings (SB´s) ließ SAS offiziell an der „grundsätzlichen Qualität des Flugzeugs“ (wohl der qualitativen Verarbeitung) zweifeln.
Unabhängig davon wurde die Anzahl an fest bestellten Boeing 737 auf 55 Einheiten erhöht und die Anzahl an Optionen auf 40 vergrößert. Elf dieser zusätzlich fest bestellten Boeing 737 sollten als größere Version ausgeliefert werden: sechs Flugzeuge als Version 737-700 mit jeweils 131 Sitzplätzen und fünf Boeing 737-800 mit jeweils 179 Sitzplätzen. Somit sollten offiziell 44 Boeing 737-600 ausgeliefert werden. Die ersten zehn Boeing 737-600 wurden kabinenseitig in einer "Euro-Version" ausgeliefert, höchst wahrscheinlich ist damit die damalige 103-sitzige Version gemeint, die u.a. durch sehr großzügige Bordküchen auffiel und durch Sitzreihen, die je nach Buchungslage angepasst werden konnten.
Ab Frühjahr 1999 wurden auch erste Boeing 737-600 in einer „domestic-Version“ eingesetzt, mit 116 fixen Sitzplätzen, kleineren Bordküchen und weniger Bordtoiletten. SAS-Piloten schwärmten von der hohen Leistungsfähigkeit der 737-600 und ehemals auf 737-500 eingesetzte Piloten bezeichneten die 737-600 als einfacher zu fliegendes Flugzeug. Die hohe Leistungsfähigkeit der 737-600 ermögliche es, dass man "innerhalb von 19 Minuten die Reiseflughöhe von 41.000 Fuß erreichen könne", so SAS. Dies würde sich sehr positiv auf den Kerosinverbrauch auswirken. Auch wurde die erheblich höhere Reisefluggeschwindigkeit von Mach 0.80-0.82 gegenüber der 737-500 mit Mach 0.745 erwähnt.
Laut SAS mochte die Mehrheit der Kabinenbesatzung die neue 737-600. Hier wurden die größeren Arbeitsbereiche der Bordküchen genannt. Von der DC-9/MD-80 umgeschulte Kabinenbesatzungen zeigten sich aber (O-Ton) „geschockt“ vom Gewicht der Passagiertüren (im Vergleich zu den Türen der MD-80 und DC-9) und dem Kraftaufwand, diese zu bewegen und richtig zu positionieren. Auch wurde die Höhe über dem Erdboden beim Schließen und Öffnen der Türen und das Erreichen der Türen zum Schließen als unangenehm empfunden. SAS schulten die Besatzung zusätzlich aufgrund dieser Punkte und optimierten durch Schulungen die Bewegungsabläufe für die 737-Türen. Hier zeigte sich einfach, dass die SAS-Kabinenbesatzungen schlicht sehr lange primär nur mit der DC-9/MD-80 vertraut waren und die ansonsten noch verbreitetere Boeing 737 ihnen Probleme bereitete, die bei vertrauten 737-Crews gar kein Thema gewesen wären.
Zur Überbrückung bis zur Lieferung der neuen Boeing 737-600 rüstete SAS einen Großteil ihrer DC-9-Flotte mit neuen Schalldämpfern aus. Dies erhöhte nicht nur den möglichen Wiederverkaufswert der DC-9, sondern erleichterte auch den Flugbetrieb der DC-9 unter strengeren Lärmschutzbedingungen etwas. Die DC-9-21-Flotte wurde bis Ende 1999 ausgemustert, während die wenigen verbliebenen DC-9-40 noch bis Januar 2002 eingesetzt wurde.
Ca. 2001 versuchten SAS offenbar, bis zu 30 oder gar die gesamte Boeing 737-600-Flotte zu verkaufen. Nach meinem Kenntnistand konnten tatsächlich drei 737-600 vermittelt werden, ansonsten hielt sich das Interesse an diesem Muster sehr in Grenzen. Das Modell schien für Kurzstrecken nicht optimal zugeschnitten zu sein und auch nicht für Routen, die von der Kapazität her der 737-600 entsprachen. Recht häufig konnte man lesen, dass die 737-700 und 737-800 zu nur unwesentlich höheren Betriebskosten erheblich ertragreicher eingesetzt werden können, die Betriebskostenstruktur der 737-600 somit eher unvorteilhaft war. Das Flugzeug war insgesamt zu schwer und verbrauchte in SAS-Konfiguration nicht erheblich weniger Kerosin als die bei SAS vergleichbare MD-87.
Ein letzter Aspekt ist im Zusammenhang mit diesem Thema interessant: mehrfach wurde bei unabhängigen Passagierumfragen mit eher freien Fragen ohne Erwartung technischer Kenntnisse festgestellt, dass bei SAS die MD-80/-90 die Spitzenposition einnahm, gefolgt von der Airbus A321. Die 737NG wurde bei so einfachen Fragen wie „wie komfortabel ist die Kabine?“ oder „wie ist ihr Gesamteindruck?“ nicht so bewertet, dass diese Modellfamilie Spitzenplätze erreichte. Auch wurde öfter erwähnt, dass die 737-600 aufgrund ihrer Auslegung mit recht großen Tragflächen und kurzem Rumpf in turbulenten Luftschichten unruhig schwebt, während die MD-80/-90 durch ihre Auslegung viel ruhiger in der Luft liegt.
Unabhängig davon geht aber die Epoche der MD-80 bei SAS sehr bald zu Ende und SAS werden ihre Flotte weiter modernisieren und (wieder) vereinheitlichen.
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